Rolf Behme: Stadt-Körper -- Leipziger
Allerlei
Arbeitsgruppe "STADT-KÖRPER - Leipziger Allerlei"
Rolf Behme
Eine gelungene Performance?
"Denken klärt und verallgemeinert ein Erlebnis, Erleben bedeutet darüber hinaus aber auch Fühlen und Wollen - beides Quellen für Werturteile und Gebote." Aus der Sicht des Ethnologen Victor Turner gilt die Darstellung als geeigneter Abschluss eines Erlebnisses. Etymologisch leitet Turner das englische Wort "performance" vom altfranzösischen "parfournir" ab, welches er mit "sorgfältig durchführen" oder "abschließen, vollenden" übersetzt. Bezogen auf die Performance Art lässt sich feststellen, dass die performative Handlung eines Künstlers dessen individuelles Erlebnis zur Aufführung bringt und damit, zunächst für sich als Subjekt, einen geeigneten Abschluss dieses Erlebnisses produziert. Die Wendung des "sorgfältig(en) Durchführens" bekommt hier eine gerechtfertigte Dimension: Nur eine präzise vollzogene Performance vermag die Wirkung eines echten Erlebnisses mit dem Charakter des Verweises auf gesellschaftliche Bedeutung zu beinhalten. Verliert die Performance die Ernsthaftigkeit in der Aufführung, wie auch immer die inhaltliche Anlage der Aktion sein mag, geht gleichsam ihre soziale Wirkung verloren.
Hier kommt auch der Betrachter ins Spiel. Ist die Performance gelungen, das heißt, vermag sie eine individuelle Botschaft des Performers zu transportieren, kann sie ebenfalls zum Erlebnis des Rezipienten werden.
Nur wenn sich die Präzision des entworfenen Bildes in ein positives oder ein negatives Spannungsverhältnis mit den Beobachtern bringen lässt, kann es zum "geeigneten Abschluss" auch beim Zuschauer kommen.
Mit einer Arbeit, die sich auf einem gemeinsamen gesellschaftlichen Nenner zwischen Publikum und Performer bewegt, ohne dass sie vollständig verrätselt bleibt, lässt sich Kultur mit einer Performance erschaffen, darstellen oder gar verändern: "Kultur ist gerade das Ensemble solcher Äußerungen - das der Gesellschaft verfügbar und der einfühlenden Durchdringung durch den "Geist" anderer zugänglich gemachte Erleben Einzelner".
STADT-KÖRPER - Leipziger Allerlei
PROLOG: Eine konkrete Vorgabe all dessen, was in der Arbeitsgruppe geschehen soll, kann und soll hier nicht erfolgen. Statt dessen ist es meiner Meinung nach sinnvoll, an dieser Stelle einige Möglichkeiten (1-3) aufzuzählen, die der Arbeitsgruppe ebenso vorgetragen werden, mit dem Ziel einer gemeinsamen Aktionsfindung.
Übungen sollen dazu beitragen, den öffentlichen Stadtraum freudvoll-aktionistisch zu erkunden (hier ist das Wetter ausschlaggebend!)
Zu Beginn sollen Beispiele von Performance-Künstlern vorgestellt werden, die sich mit ihren Arbeiten in dieser Thematik (Stadt-Körper) bewegt haben.
1. Leipziger Allerlei (Variante 1): die einzelnen Gruppenmitglieder (in Dreiergruppen) begeben sich in den Stadtraum auf der Suche nach dem echten, wahrhaftigen und traditionellen Leipziger Allerlei, indem sie Rezepturen erfragen (Passanten, Hausbewohner usw.) unterschiedliche Umsetzungen in Gastwirtschaften oder Privatwohnungen austesten usw. Jedes Gespräch mit den Leipzigern soll fotografisch dokumentiert und protokolliert, die Testergebnisse fixiert werden. Die Ergebnisse der Aktion werden anschließend zusammengetragen und sollen in einem "Künstlerbuch" (Fototagebuch) veranschaulicht werden.
2. Leipziger Allerlei (Variante 2): Ein vorliegendes Rezept wird auf seine Qualitäten hin untersucht und in geringen Nuancen modifiziert und sinnvoll erweitert. Die einzelnen Bestandteile des neu entwickelten Rezeptes werden eingekauft nach zuvor festgelegten Spielregeln. Gemäß des Rezeptes wird anschließend das Leipziger Kunstpädagogische Allerlei angefertigt. Im Abschlussplenum kann von dem Produkt probiert werden.
3. Das Leipziger Netz der Straßenbahn, übertragen auf den Stadtplan, soll Anlass zu einer Erkundung der Stadt bieten. Ein orthogonales Raster wird über den Plan gezogen. Den jeweiligen Schnittpunkten werden Farben und Formen zugeordnet, entsprechend der Farben der Wollfäden. Die Schnittpunkte/innerstädtischen Orte werden auf die Teilnehmer verteilt. Jeder Teilnehmer soll mit Hilfe der Straßenbahn die ihr/ihm zugeordneten Orte anfahren, dort entsprechend der ausgewählten Farben und Formen Gegenstände finden, erfragen oder kaufen und mit diesen zurück zum Institut kommen. Dort entsteht aus den mitgebrachten Utensilien, sowie der Staffelei, dem Stadtplan, den Wollfäden usw. eine Rauminstallation "Leipziger Netz", die dem Abschlussplenum präsentiert werden soll.
Die Teilnehmer möchten bitte eine Fotokamera und Farbfilme mitbringen. Ein Raum, entweder zur Präsentation oder zum Kochen ist notwendig. Die folgenden Dinge werden für die Durchführung der Aktionen gebraucht: Hammer, Nägel, transparente 20 Liter Müllbeutel, Stadtplan (kein Falk) und einen Straßenbahnplan der Stadt, Kochrezept "Leipziger Allerlei", farbige Wollfäden, Stecknadeln mit farbigen Köpfen, Faserplatte im Format des Stadtplans, Staffelei, Kochplatte, großer Kochtopf, Pfanne, Kellen, Bretter, Messer, Teller, Löffel.
Zum Verlauf des Workshops
Nach einer Einführung mit dem Ziel der Vermittlung von Vorstellungen und Absichten zum Thema STADT-KÖRPER - Leipziger Allerlei (so sollte der Text "Eine gelungene Performance?" auf die Qualitätsproblematik performativer Kunst aufmerksam machen) wurden Werke einzelner Künstlerinnen und Künstler beschrieben und erläutert, die sich mit aktionistischen Mitteln dem Thema "Stadt" angenähert haben (z. B. Wolf Vostell, Timm Ulrichs, VALIE EXPORT, Marina Abramovic und Ulay, Sam und Ben).
Drei Varianten einer stadtbezogenen, freudvoll-aktionistischen Erkundung Leipzigs bildeten die Basis zur Findung einer von allen Workshop-Teilnehmern getragenen und durchzuführenden Aktion. Nicht die Produktion eines Leipziger-Allerlei-Eintopfes, dessen Rezeptur auf spielerisch performative Weise in Erfahrung zu bringen und dessen Zutaten zu besorgen wären, fand allgemeine Akzeptanz, sondern die dritte Variante wurde realisiert, jedoch in modifizierter Form.
Gemeinsam gingen die Teilnehmer auf den Leipziger Markt, Mittelpunkt der Stadt, nachdem sich Dreiergruppen gebildet hatten, die sich jeweils einer Farbe sowie einer eindeutig bestimmten Form beziehungsweise Materialart (Glas, Kunststoff, etc.) zuordneten, also zum Beispiel Schwarz und Glas. Die sechs Gruppen gingen in je unterschiedliche Richtungen zur gleichen Zeit los, um dieser Richtung weitgehend konsequent zu folgen, unterwegs Notizen zu besonderen Ereignissen und Beobachtungen zu machen und um nach genau zwanzig Minuten anzuhalten. Dort wurden Objekte in der zuvor verabredeten Farbgebung und Materialität gesucht. Die Suche sollte möglichst direkt an dem Ort erfolgen, d. h. die konkrete Kontaktaufnahme zu anderen Passanten beziehungsweise dort wohnenden Personen war intendiert. Schriftliche Aufzeichnungen und Fotografien sollten den Verlauf der Aktion dokumentieren. Angestrebt war es, möglichst viele Gegenstände gemäß der Vorgabe zu sammeln und anschließend zurück in das Institut für Kunstpädagogik zu bringen.
Dort wieder angekommen wurde eine Installation aufgebaut, die den Prozess nachvollziehbar verdeutlichte. Im Treppenhaus des Institutes wurde eine Staffelei aufgestellt, die den Stadtplan von Leipzig zeigte, der auf einer Faserplatte aufgezogen war. Die nach dem 20-minütigen Gang erreichten Orte wurden mit Farbnadeln entsprechend der Farbvorgabe markiert. Von diesen verliefen in der Gruppenfarbe gehaltene Fäden zu den "gefundenen" Objekten, die auf Tellern ("Leipziger Allerlei") am Boden vor der Staffelei positioniert lagen. Die Berichte der Gruppen, die auf Zeiten, Ereignisse und Orte verwiesen, wurden am PC geschrieben und als Belege vor der Installation ausgelegt.
In einer Reflexion der Aktion mit den Workshop-Teilnehmern wurden Vorzüge und Nachteile der Aktion sowie deren unterrichtliche Relevanz diskutiert und ausgewertet. Als positiv haben die Teilnehmer die neue und eben andersartige und Spaß bringende prozesshafte Stadterkundung empfunden. Eine intensive Sensibilität für die ausgewählte Farbe hat einen zuvor nicht gekannten und mit hoher Spannung versehenen Zugang zur Stadt ermöglicht, der in gleicher Weise auch mit Schülern durchführbar ist.
Die Kommunikation innerhalb der Gruppe, die Annäherung an zuvor fremde Menschen in ungewohnter Form, das Ansprechen, wurde als erlebnisreich und lerneffektiv erfahren. Die Stadt als Ort des Konsums und der "bewusstlosen" Zerstreuung konnte mit Hilfe dieser Vorgehensweise anders und neu erobert, durchquert und kennen gelernt werden.
Gruppe Gelb
Weg: Markt - Grimmaische Straße - Augustusplatz -Georgiring - Gold-schmidtstraße - Nürnberger Straße (zwischen Roßstraße und Seeburgstraße)
1. Baustelle Nürnberger Straße: Baumaterialien gefunden (14.50 Uhr)
2. Friseur "Örtel": ungläubige Reaktionen - dennoch Feuerzeug und Lockenwickler geschenkt bekommen (14.52Uhr)
3. Baustelle hinter dem Friseur: Eimer, Baumaterialien und Abfall gefunden (sehr interessierte Beobachtung durch die Friseusen) (15.00 Uhr)
4. Bäcker "Siebrecht": gelber Plastikhummer, gelbe Fanta, und Tüte gekauft - ältere, sehr hilfsbereite Verkäuferin (15.05 Uhr)
5. "Sparkauf": Dekorblume von einer sehr verunsicherten Verkäuferin geschenkt bekommen - holte sogar eine Schere, damit wir die Blume aus ihrer Dekoration schneiden konnten (15.09 Uhr)
Gruppe Blau
1. Start Marktplatz, Richtung Katarinenstraße (14.30 Uhr)
2. Farbe Blau entdeckt (viele Fotos, Mann in Blau, stehen plötzlich vor verschlossenem Tor)
3. Stürzen uns lebensmüde über die große Straße, geradeaus, Ziel: Nordstraße (Kirche); Frage: Was ist Transparenz - Blau transparent
4. Nordplatz vor der Michaeliskirche, im Baum durchsichtige blaue Tüte, Holger im Baum, Frau kommt vorbei - kurzes Wundern - geht weiter, alte Frau geht vorbei und lächelt - Holger im Baum zerfetzt die Tüte - kriegt kleines Stück ab; Gemüseladen: drei Lutscher, Weintrauben, 1x Milka Alpenmilch; Mülleimer links vor der Kirche: blaue Wasserflasche; Erlösung, was gefunden zu haben - Spannung lässt nach; Am Ende weiß man, was alles blau ist. (14.50 Uhr)
Gruppe Schwarz
1. Markt, Altes Rathaus (14.28 Uhr)
2. Otto-Schill-Straße: (schwarzer Asphalt) - "Norma" (14.35 Uhr)
3. Blick: Reichsgericht (ehem. Dimitroff-Museum), Clara-Zetkin-Park: Schwarze Dame, schwarzer Hund (14.42 Uhr)
4. Hillerstraße: restaurierte Thomasschule/A. (14.48 Uhr)
5. Wollten Bewohner der Hauptmannstraße herausklingeln - erfolglos (15.00 Uhr)
6. Konsum (Ecke Johann-Sebastian-Bach-Straße/Hauptmannstraße) (15.05 Uhr)
7. Park, Lutherkirche: vier Hochlandterrier (weiß!) (15.08 Uhr)
8. Verbindungsgang Neues Rathaus, Stadthaus, Richtung Markt (15.10 Uhr)
Gruppe Grün
1. Verlassen Markt Richtung Hainstraße: beinahe von Fahrrad überfahren worden (14.31 Uhr)
2. Kaffeeduft, Presslufthammergeräusch (14.33 Uhr)
3. Kinoplakat "Sonnenallee"
4. Biegen ein in den Jägerhof - Leuchtpfeile - durchqueren Kinopassage - Stasi-Gebäude (runde Ecke) jetzt ein Dance-Palast - Richard-Wagner-Platz - Brücke "Blaues Wunder": sichten grünen Müllcontainer - treten in Scherben von zer-platzter "Gorbi"-Flasche (14.34 Uhr)
5. Jahnallee - Bankrottallee (14.40 Uhr)
6. "Schlecker" betreten: Wärmflasche, Handwaschbürste, Birnenschwamm, Gummi-handschuhe, Flüssigseifenspender erstanden (14.45 Uhr)
7. Querstraße Leibnitzstraße
Gruppe Rot
Weg: Peterstraße - Peter-Stein-Weg - Karl-Liebknecht-Straße, Ecke Riemannstraße
1. Beginn: Altes Rathaus
2. Gemüsegeschäft "Frupa": eine Erdbeere, eine Paprika, ein Radieschen gekauft, eine Tomate durch Diebstahl erworben (weil alle blöd guckten)
3. Blumenladen "Stötzer": Azaleenblüte geklaut, eine Inkalilienblüte, nachdem wir auffielen, geschenkt bekommen (5 min)
4. Störung des Rückweges durch einen Hausabbruch
5. Stein (rot) neben dem Abrisshaus gefunden
6. Vor dem Abrisshaus ein Blatt und eine Blüte gepflückt - Kontrolle durch Sicherheitsinspektor (Schulze, Erich) - Sachverhalt erklärt
7. Rote Blätter am Straßenrand gefunden (5 min)
Gruppe Braun
Beginn: Marktplatz (14.29 Uhr)
1. Schuhmachergasse
2. Nikolaikirche: durch Politessen Strafzettel verteilt
3. Nikolaistraße: Plakat mit Aufschrift "2000" (aus Stoff)
4. Brühl
5. Goethestraße: Bleistift von "Ikea" gefunden
6. Schwanenteich: Streichhölzer
7. Hochhaus Wintergartenstraße: vollgepöbelt und mit Bierflasche beworfen worden
8. Rosa-Luxemburg-Straße: rasende Polizeiautos und Krankenwagen mit Sirene - pinkelnder Hund am Laternenmast
9. "Asia-Imbiss" mit Sicht auf "Insel": Blumenverkäuferin, braunen Blumenkübel für DM 2,- erstanden
10. Ende der Aktion (14.56 Uhr)