Nornen

Die Nornen (altnordisch Nornir) sind in der nordischen Mythologie schicksalsbestimmende weibliche Wesen, von denen einige von Göttern, andere von Zwergen oder Elfen abstammen sollen. Innerhalb der indogermanischen Religionen und Mythologien besteht eine Verwandtschaft mit den römischen Parzen und den griechischen Moiren.

Drei Schicksalsfrauen werden mit Namen genannt: Sie heißen Urd (Schicksal), Verdandi (das Werdende) und Skuld (das Gesollte). Ihre Namen gelten als nordische Entsprechungen gängiger mittelalterlicher Vorstellungskonzepte der Zeit in Form von Personifikationen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Auch wenn ihre Namen jung sind, scheinen sie auf eine alte germanische Vorstellung einer namenlosen Dreiheit von Schicksalsfrauen zurückzugehen.

Nach der Völuspá wohnen sie an der Wurzel der Weltenesche Yggdrasil an der Urdquelle, der Quelle des Schicksals, nach der die Norne Urd benannt ist. Sie lenken die Geschicke der Menschen und Götter.

Eine Esche weiß ich,
heißt Yggdrasil,
Den hohen Baum
netzt weißer Nebel;
Davon kommt der Tau,
der in die Täler fällt.
Immergrün steht er
über Urds Brunnen

Davon kommen Frauen,
vielwissende,
Drei aus dem See
dort unterm Wipfel.
Urd heißt die eine,
die andre Verdandi:
Sie schnitten Stäbe;
Skuld hieß die dritte.
Sie legten Lose,
das Leben bestimmten sie
Den Geschlechtern der Menschen,
das Schicksal verkündend.

Verdandi kommt nur hier vor und hat sonst keine nachweisbare Tradition und wird dem Dichter der Völuspá selbst zugeschrieben. Skuld ist in anderem Zusammenhang der Namen einer Walküre, und auch Urd ist lediglich eine hochmittelalterliche Personifikation der Schicksalsmacht.

Nach der Gylfaginning in der Snorra-Edda wird der Baum nicht durch Nebel erhalten, sondern die Nornen pflegen ihn:

„Ferner erzählt man, dass die Nornen, die am Urdabrunnen hausen, täglich Wasser aus dem Brunnen schöpfen und dazu den Schlamm, der um die Quelle herum liegt, und dies über die Esche ausgießen, damit ihre Zweige nicht verdorren oder verfaulen. Dies Wasser ist so heilig, dass alle Dinge, die in jene Quelle geraten, so weiß werden wie die Haut, die man Skjall nennt und die innen an der Eierschale sitzt.“

Daneben werden noch solche Nornen erwähnt, die Müttern bei der Geburt beistehen: In Fafnismál fragt Sigurd den Drachen Fafnir:

Laß dich fragen, Fafnir,
da du vorschauend bist
Und wohl manches weißt:
Welches sind die Nornen,
die notlösend heißen
und Mütter mögen entbinden?
Fafnir:
Verschiedenen Geschlechts
scheinen die Nornen mir
Und nicht eines Ursprungs.
Einige sind Asen,
andere Alfen,
Die dritten Töchter Dwalins.

Nacht wurde es im Gehöft,
Nornen kamen,
die dem Edlen
die Lebenszeit schufen;
sie bestimmten, dass dieser Heerführer
der berühmteste werde
und als der Fürsten
bester erscheine.

Ich sah Walküren
weither kommen,
Bereit zu reiten
zum Rat der Götter.
Skuld hielt den Schild,

Ähnliche Schicksalsfrauen gibt es auch in der griechischen (Moiren), der römischen (Parzen) und der slawischen Mythologie (Zorya).

Eine weitere Variante ist, dass die Nornen nicht das Geschick als solches bestimmen, sondern dass gute Nornen Gutes und böse Nornen Böses zuteilen.

Gute Nornen aus vornehmem Geschlecht bescheren gutes Leben; wen aber Unglück heimsucht, der verdankt das den bösen Nornen.“

In der Urdquelle schwimmen zwei Schwäne, von denen alle weißen Schwäne abstammen:

„Im Urdabrunnen leben zwei Vögel, die heißen Schwäne, und von ihnen stammt die Vogelart dieses Namens.“

Aufgrund der dem Schicksal naturgemäß innewohnenden Unwägbarkeiten gelten die Nornen als Ausprägung des ambivalenten Aspekts des sog. Mutterarchetypus im Sinne von Carl Gustav Jung

Im Trauerspiel von von Richard Wagners Götterdämmerung, dem letzten Teil seiner Tetralogie, spielen die Nornen eine wesentliche Rolle. Sie erinnern an das in den drei Abenden vorher Geschehene, das Gegenwärtige und schließlich, während ihnen das Schicksals-Seil reißt, von dem sie wie träumend die Runen ablesen, das nahe Ende der Götter, die hereinbrechende Götterdämmerung.

Reinhard v.Tümpling, im Januar 2014