Perspektive 6 und Expressionismus

von Reinhard von Tümpling

Ich habe mich noch einmal mit diesem Thema beschäftigt, weil einesteils meine unterrichtlichen Tischvorlagen zum Thema Fluchtpunkt-Perspektive unvollständig waren.

Andererseits stellte Kirchner stets seine starkfarbigen Figuren in ein deutlich nachvollziehbares Raumgefüge hinein; und zugleich verfügte Kirchner völlig entgegen gesetzt als Mensch, Architekturstudent und Farb-Expressionist fast losgelöst über die ganze Bandbreite der Flächen- und Raumgestaltung über die Gestaltungsmöglichkeiten seiner Zeit.

Er verwendete sehr wohl die Fotografie, als auch Lithografie, Tiefdruck, Holzschnitt und starke grafische formale Vereinfachungen auf Textiles auch mit der Farbe, ohne je den wesentlichen Formcharakter der perspektivischen Verzerrung zu beeinträchtigen und um einen (bewegten) Bildeindruck in die Fläche des Tafelbildes zu klappen.

Ich wüsste fast nicht mehr, wie ich anfangen würde. Den Gesamtzusammenhang schnell skizzieren?

Oder zuerst die kompositorische Anordnung der Wichtigkeit der Farbflächen klären?


als Exkurs bearbeitet..... Ernst Ludwig Kirchner

geboren am 6. Mai 1880 in Aschaffenburg, gestorben am 15. Juni 1938 in Davos

 Ernst Ludwig Kirchner kommt als Expressionist des 20. Jahrhunderts eine grosse Bedeutung zu.

Erna Schilling, genannt Frau Kirchner, war während 26 Jahren durch alle Lebenslagen hinweg seine Lebensgefährtin.

Es gibt spärliche Hinweise auf ihre Wesen, ihre Herkunft, ihre Sicht der Beziehung mit Ernst Ludwig Kirchner, ihr Verhältnis zu Freunden und ihre Meinung zu seinem Werk.

Ich habe für diese Datei und Zusammenschreibung eine tabellarische Zusammenschreibung von Barbara Redman aus Malans (aus einem Netzeintrag) zur Nachbearbeitung genommen, die ihrerseits ein wesentlich umfangreicheres Material sichten und zusammenschreiben konnte.

Ich bin aber auch zur Ansicht gekommen, dass in „Ernst Ludwig Kirchner, Ausstellungskatalog in Berlin und München 1980. Prestel Verlag, ISBN 3-7913-0488-7“ genug biografisches Material mit den Bildern parallel selbst zusammen getragen worden ist, das auch Ernas Rolle neben Kirchner selbst als Frau und Lebensgefährtin beleuchtet.

Im wesentlichen war Erna Schilling Kirchners Haushälterin, Lebensgefährtin, Frau, Verwalterin seiner Arbeiten in Berlin und als Witwe seine Nachlassverwalterin. Kirchner selbst hätte sein Leben nicht ohne Erna Schilling und den realen Bezug zu ihr so inh seiner Weise führen können. Vielleicht fasst man Ernas Rolle besser als die einer „Reisebegleiterin“.

(Ich übernehme die Biografie Kirchners aus dem BAM-Portal.)

 

Ernst Ludwig Kirchner – Biographie

 

1880

Am 6. Mai kommt Ernst Ludwig Kirchner in Aschaffenburg als Sohn Ernst Kirchners und dessen Frau Maria Elise, geb. Franke, zur Welt. In der Folge mehrere durch den Beruf des Vaters bedingte Umzüge, der in der Papierindustrie tätig ist.

1890

Umzug der Familie nach Chemnitz, Besuch der Volksschule und dann des Gymnasiums.

1901

 

Beginn des Architektur-Studiums an der Technischen Universität Dresden, Bekanntschaft mit Fritz Bleyl.

1903-1904

Studium an der Technischen Hochschule in München. Rückkehr nach Dresden und Begegnung mit Erich Heckel.

1905

Bekanntschaft mit Karl Schmidt aus Rottluff, Abschluss des Studiums und Gründung der „Brücke“ mit den anderen jungen Künstlerkollegen.

1906

Max Pechstein stößt zur Gruppe hinzu, die in diesem Jahr in der Dresdner Lampenfabrik Seifert ihren ersten öffentlichen Auftritt hat.

1907-1911

Sommeraufenthalte zunächst in Goppeln, dann 1908 auf Fehmarn und im Folgejahr an den Moritzburger Teichen. Die beiden letzten Orte sucht Kirchner in Begleitung anderer „Brücke“-Künstler immer wieder auf .

1910

Große Ausstellung der „Brücke“ in der Dresdner Galerie Arnold. Kirchner trifft mit dem Hamburger Sammler und Juristen Gustav Schiefler zusammen, einem seiner wichtigsten Förderer.

1911

Übersiedlung nach Berlin. Kirchner lernt seine Lebensgefährtin Erna Schilling und deren Schwester Gerda kennen. Zusammen mit Max Pechstein Gründung des „MUIM (Moderner Unterricht in Malerei)-Instituts“.

1912

Gemeinsam mit Heckel malt Kirchner für die Kölner Sonderbundausstellung eine Kapelle aus.

 

1911/12 lernt Ernst Ludwig Kirchner die Schwestern Erna und Gerda Schilling bei einem Auftritt als Tänzerinnen in einem Tanzlokal in Berlin kennen.

Den Sommer verbringen Kirchner, Erna und Gerda Schilling auf der Insel Fehmarn. Kirchner schildert die Begegnung später:

 

"Die Gestaltung des Menschen wurde durch meine dritte Frau, eine Berlinerin, die von nun an mein Leben teilte, und deren Schwester stark beeinflusst. die schönen architektonisch aufgebauten Körper dieser beiden Mädchen lösten die weichen sächsischen Körper ab. in Tausenden von Zeichnungen, Graphiken und Bildern erziehen diese Körper mein Schönheitsempfinden zur Gestaltung der körperlich schönen Frauen unserer Zeit. ich bekam den ersehnten Kameraden auch geistig, den ich bei den sächsischen Frauen vergeblich gesucht hatte, die wohl ein raffiniertes Liebesleben aber keine ebenbürtige Kameradschaft geben konnten. ... das in Berlin so viel stärkere und mutigere Erleben, diese freie Kameradschaft mit der Frau, die sich selbst vollkommen gab innerlich und äusserlich...., gab so viel Anregung zum Schaffen, dass ich völlig allein aus diesem Leben heraus die Form schaffen konnte...."

kirchner, manuskript "die arbeit e. l. kirchners", in e.w. kornfeld

 

1913

Kirchner verfasst die Chronik der „Brücke“, über die es zum Zerwürfnis der Gruppe kommt. Einzelausstellungen im Hagener Folkwang Museum und der Galerie Gurlitt, Berlin.

 

1913 Stickereien und Textilapplikationen werden von Erna und Gerda

Schilling für das Berliner Atelier gefertigt:

Diwandecke mit Applikationen, Mövenjagd auf Fehmarn

 

Die Atelierwohnung an der Durlachstrasse wird von Erna und Kirchner zu einer wohnlichen Klause mit exotischem Hauch ausgestaltet. die ästhetisch und ökonomisch nicht befriedigende Massenproduktion wird durch eigene Arbeiten ersetzt: geschnitzte Schalen, Aschenbecher, Figuren und Textilien.

 

1914

Ausstellung im Jenaer Kunstverein und Beginn der Freundschaft mit dem Jenenser Archäologen Botho Graef. Ausbruch des Ersten Weltkrieges.

1914 beziehen Erna und Kirchner im April ein neues Atelier in der Körnerstrasse 45 in Berlin-Friedenau.

Kirchner lernt den Philosophen und Nobelpreisträger Rudolph Eucken kennen und dessen frau Irene, die in Jena eine Stickstube unterhält.

kirchner und Erna verbringen einen letzten glücklichen Sommer bis zum Ausbruch des Krieges.

1915

Einberufung Kirchners nach Halle a. d. Saale. Der bedrückende Militärdienst führt zum körperlichen und seelischen Zusammenbruch des Künstlers. Zurück in Berlin erfolglose Beteiligung an einem Wettbewerb der Stadt Hagen für eine Kriegsplastik.

 

1915 Die Dachwohnung an der Körnerstrasse wird künstlerisch ausgestaltet. auf Fotos fallen besonders die Stickereien der Bordüren, der Tischdecke, der Bettüberzüge und Kissen auf; Erna stickt nach Entwürfen aus den Fehmarnwochen mehrere Wandbehänge und Decken.

die pracht der farben, s.9

Im März meldet sich Kirchner als Fahrer zur Artillerie. im September wird er wegen Lungenaffektion und Schwäche beurlaubt; zur Erholung sucht Kirchner ein sanatorium auf.

 

1916

Aufenthalt im Sanatorium von Königstein im Taunus, wo Kirchner Wandbilder mit Fehmarn-Motiven schafft (heute zerstört). Erste Ausstellung bei Ludwig Schames in Frankfurt/M.

1916 Brief vom 27. Juni an Hagemann, indem Kirchner bittet, an Erna in Berlin Geld zu übersenden.

 

"Mein Mann befindet sich zurzeit im Sanatorium von Dr. Edel in Charlottenburg. er ist momentan schwer krank, so dass niemand zu ihm darf. ... ich bin in grosser Sorge, doch haben mir die Ärzte die bestimmte Hoffnung gemacht, ihn bei energischer Behandlung heilen zu können...."

brief von erna vom 8. 12. 1916 an hagemann

 

 

1917

 

Übersiedlung nach Davos. Kirchner bewohnt zunächst eine Hütte auf der Staffelap. Im Winter Aufenthalt im Sanatorium Bellevue in Kreuzlingen.

 

1917 Kirchner reist nach Davos zur Behandlung seiner Krankheit. vom 19.1. - 5.2. 1917 hält er sich in der Pension Wijers auf.

"Er spricht vernünftig über die Frauen, er muss Glück gehabt haben mit der Wahl seiner Freundin."

brief vom 27.1.17 von helene spengleran e.griesebach

 

"...In einem gelb gestrichenen schrägen Dachraum sass er auf einem ganz niedrigen Sessel neben einem kleinen, heissen Ofen. .... die kleine, ängstlich dreinschauende Frau stellte das geschaute beiseite und brachte eine Flasche Wein."

brief von e. griesebach vom 23.3.17 an h. spengler

 

Am 6. Mai reist Kirchner wieder von Berlin ab, in Begleitung einer Schwester Hedwig“, die Kirchner für die Reise mitgenommen hat und die vorläufig bei ihm bleibt. Am 8. Mai 1917 übersiedelt Kirchner nach Davos und begibt sich in die Behandlung von Dr. Spengler. um der täglichen ärztlichen Kontrolle aus dem Wege zu gehen, sucht Kirchner für sich und Schwester Hedwig für den Sommer 1917 eine Hütte auf einer Davoser Alp. es findet sich die Rüesch-Hütte auf der Stafelalp.

Im Juli lässt sich Kirchner, halb gelähmt, auf die Stafelalp über Davos-Frauenkirch fahren, wo er in einer Alphütte des Bauern Rüesch, in der Obhut der protestantisch-preussischen“ Krankenschwester Hedwig mit äusserster Energie zu arbeiten beginnt. es entstehen sogenannte "packpapier-Aquarelle", mit blassen Farben auf braunes Papier gemalt.

 

In Berlin-Friedenau harrt Erna Kirchner aus, betreut Wohnung und Atelier und sorgt für die Aufrechterhaltung der geschäftlichen und persönlichen Kontakte in Deutschland. Sie kümmert sich darum, dass Kirchner in der Sommerausstellung 1917 der berliner secession mit Bildern vertreten ist.

Auf den Rat von Henry van de Velde sucht Kirchner am 17. Sept. 1917 das Nervensanatorium von Dr. Ludwig Binswanger in Kreuzlingen auf.

 

Nachdem sich Erna während dreier Monate bemüht, eine Reisegenehmigung in die Schweiz zu erhalten, trifft sie am 5. Okt. in Kreuzlingen ein. Sie wohnt im Sanatorium und kann bis Anfang November mithelfen, den Patienten zu betreuen.

"Meine Frau hat ihren Pass bekommen und ist für einige Wochen hier. Sie sieht sehr elend aus und ich freue mich, dass sie sich etwas kräftigen kann, um in Berlin wieder mit voller Kraft tätig zu sein.“

brief von elk vom 9.10.1917 an henry van de velde

 

Erna wird in diesen Tagen von Dr. Ludwig Binswanger über Kirchners früheres Leben ausgefragt; dieser bemüht sich immer noch um eine Diagnose von Kirchners leiden.

"...durch diese Lähmungserscheinungen, namentlich an den Händen, erzwungene Untätigkeit, neigt er an manchen Tagen zu starken Depressionen. wir versuchen diese so viel wie möglich dadurch zu bekämpfen, dass wir uns mit einer Ordnung der Arbeiten von Berlin, soweit sie uns im Gedächtnis sind, beschäftigen.... dank der Erholung, die ich hier finde, wird es mir möglich sein, Kirchners Angelegenheiten in Deutschland mit neuer Kraft weiterzuführen."

brief vom 21.10.1917 von erna an helene spengler

 

Kirchner trifft testamentarische Verfügungen. Am 24. Okt. beglaubigt ein Notar eine Vollmacht, die "Erna Schilling, genannt Frau Kirchner" zu Bildverkäufen und sonstigen geschäftlichen Dingen bezüglich Kirchners Kunstwerke ermächtigt.

 

 

Am 1. Nov. setzt Kirchner ein Testament auf: "ich will eine testamentarische Verfügung treffen für alle Fälle, als Vollstrecker .... möchte ich Sie bitten, zusammen mit meiner Frau..."

brief vom 1.11.1917 von elk an hagemann

 

1918

Kirchner mietet das Haus „In den Lärchen“ an. Beginn der Ausstattung seines Hauses mit Bildwerken bzw. Gebrauchsgegenständen.

1918 "Es geht jetzt etwas schwer für mich. meine Frau kam so schwach hier an, dass ich ihr keine solche Arbeit aufbürden konnte, besonders, da sie in den Bergen alle Kräfte für meine Pflege brauchen wird. Sie ist viel mit Packen beschäftigt."

brief vom 7.7.1918 von elk an schiefler

 

Am 9. Juli wird Kirchner in Begleitung von Erna halb geheilt aus dem Sanatorium entlassen. Unter Obhut des Pflegers Brühlmann geht die Reise über Zürich, Landquart nach Davos auf die Stafelalp.

Er diktiert Erna Briefe, da er immer noch eingeschränkt ist in der Bewegungsfreiheit der Hände. Anfang September reist Erna nach Kreuzlingen, packt die dort liegenden Bilder und Utensilien zusammen und bringt sie auf die Längmatte bei Davos, einem geräumigen Bauernhaus der Geschwister Müller. nach dem 20. Sept. erfolgt der Umzug von der Stafel. Erna hilft beim Einrichten und reist dann Anfang Oktober nach Berlin zurück - wohl mit dem Gedanken, möglichst bald nach Frauenkirch zurückzukehren.

 

Am 13. Oktober erhält Kirchner die Niederlassungsbewilligung in Davos.

Kirchner beginnt mit der skulpturalen Ausstattung des Hauses. Seit jeher hatte Kirchner einen umfassenden Anspruch an die kunst, eine Kunst, die jeden Bereich des Lebens durchdringen sollte. neben der Malerei, Plastik und allen Arbeiten auf Papier gestaltete er Gebrauchsgegenstände aus Holz, Schmuckstücke aus Metall und bemalte Vorhänge.

 

Der Haushalt wird in Ernas Abwesenheit von Barbara Müller betreut, der jüngeren Tochter der Müllers. Sie schreibt während den monaten Oktober und November Kirchners Briefe, hilft beim Spritzen von Morphium und führt den Haushalt zur Zufriedenheit von Kirchner, was sich auf seinen Gesundheitszustand verbessernd auswirkte.

Nach Kirchners Entwurf stickt Barbara Müller ein Kopftuch.

kornfeld s.136

 

1919 Anfang Januar schickt Erna die schwere Druckerpresse aus dem Berliner-Atelier und drei seiner kostbaren Teppiche nach Davos.

"mit der Ankunft meiner Frau und den Teppichen soll das alles anders werden. ich will dann den oberen Raum gemütlich zum Wohnen einrichten und vor allem für bequeme Sitze sorgen."

brief von elk an helene spengler vom 15.1.1919

 

Von Helene Spengler wird Kirchner auf eine offizielle Eheschliessung mit Erna angesprochen, wozu er sich aber nicht entschliessen kann:

"Sie haben gewiss recht mit ihrer Bemerkung über die Heirat von ihrem Standpunkt, und vieles äussere wäre leichter. aber, und darum bin ich ihnen so unendlich dankbar, dass sie darüber hinwegschauen, innerlich würde ich es nicht ertragen können. ich habe das Gefühl unendlichen Dankes gegenüber dieser Frau, die Pflicht, ihr nach allen meinen Kräften zu vergelten, was sie selbstlos und treu an mir tut, aber Liebe, dieses rest- und kritiklose Gefühl zweier Menschen gegeneinander, das habe ich nicht, das kann ich nicht haben. dieses Gefühl ist in meiner tätigkeit aufgegangen. ich bin oft sehr unglücklich darüber, denn das Fehlen dieser seelischen Regung macht wirklich einsam. es ist schwer, sich in diesem Punkt klar auszudrücken

sie müssen einmal mit ihr darüber sprechen, wenn sie da ist. sie kann es ihnen besser erklären als ich."

brief von elk an helene spengler vom 16.2.1919

erna weilt als kurgast vom 12. april bis am 23. oktober in davos.

"erna war gut und feiner heute trotz des gehirnkrampfes. muss das bissel coitus wirklich sein? bin ich es, der sie oft so ordinär macht? mehr zurückhaltung und leitung wäre gut. aber wo finde ich den menschen, dem ich verstehend restlos mich geben kann?"

tagebuch 4.6.1919

 

"Erna heut abend merkwürdig grob zu den Leuten. Zu schade, dass ich keinen feineren (...) mit ihr haben kann."

tagebuch 7.7.1919

 

"Abends Bad mit Ärger über Erna. Zu schade, dass kein geistiger Kontakt mit diesem braven Kinde zu erhalten ist."

tagebuch 8.7.1919

"Grosser Kampf mit Erna am Abend um die alten immer gleichen Dinge. ich bin zu müde dazu. Es wird nichts aus ihr. nun, sie geht Montag. ich hoffe dann wieder meinen Frieden zu haben."

tagebuch 14. 10. 191

 

"Nun ist sie fort. diesmal fällt mir der Abschied schwer. es sind so viel zerstörte Hoffnungen, die ich damit zu Grabe trage. der letzte Tag war gut, und trotzdem weiss ich, dass sie immer sich für ein paar Tage zusammen nehmen kann, um dann um so mehr ins Gegenteil umzuschlagen, tut es mir doch schrecklich weh, sie so gehen zu lassen. ... ich habe sicher viel Schuld. doch ich versuchte es doch oft und immer wieder mit ihr. es ist doch so, dass das verschiedene Gefühl für die Stilllebensetzung des täglichen Lebens ausschlaggebend ist für das Verhältnis. Dabei ist sie innerlich gut. Es ist zu schade. und doch muss ich dem Werke leben und alles ausschalten was es hemmt. ich habe ja sonst nichts."

tagebuch 20. 10. 1919

 

Zwei Wochen nach Ernas Abreise beginnt Kirchner die Schnitzarbeiten am für Erna bestimmten Bett. die Entstehung des Bettes muss im Zusammenhang mit der Beziehung von Kirchner zu seiner Lebensgefährtin gesehen werden: Tagebuch und Briefe geben Hinweise darauf, dass Kirchner zwischen seiner Wunschvorstellung und Sehnsucht von einer ausgeglichenen Mann-Frau-Beziehung und den Realitäten seines Zusammenlebens mit Erna zeitweilig litt.

 

Erna kümmert sich um das Atelier in Berlin. abgesehen von regelmässigen befristeten Aufenthalten in der Schweiz bei Kirchner, beschickt sie Ausstellungen und führt die Geschäfte, signiert Druckgraphiken, macht Druckabzüge, empfängt Sammler, nimmt Zahlungen entgegen und hütet das Atelier. seit Kirchner sein Haus „in den lärchen“ bezog, sendet sie immer wieder grössere Bestände von Bildern, Zeichnungen und grafischen Blättern an Kirchner, um das Atelier in Berlin allmählich zu räumen.

 

Erna will über die Weihnachtszeit nicht allein in Berlin bleiben. Sie schreibt Kirchner schon ende November, dass sie wiederum eine Einreisebewilligung beantragt habe und für etwa 14 tage nach Frauenkirch kommen will. am 20. Dezember trifft sie in Davos ein. Das Bett für Erna ist fertig geworden.

 

1920

Der holländische Maler Jan Wiegers wird erster Schüler Kirchners. Im Winter Ausstellung im Berliner Kronprinzenpalais.

 

1920 am 12. Januar reist Erna wieder zurück. Kirchner spricht sich dankbar über den Besuch Ernas aus.

"In den letzten Tagen haben wir durch das Grammophon viel Besuch gehabt. es wurde getanzt. diese Naturkinder sind berauscht von dieser Musik. ich werde interessante Sachen zeichnen können."

brief vom 12.1.1920 von elk an helene spengler

 

Im April kommt Erna wiederum nach Frauenkirch. den Sommer verbringen sie auf der Stafelalp. Ende November reist Erna wiederum zurück nach Berlin.

 

1921 "Ich gehe schon in den nächsten Wochen wieder nach Frauenkirch zurück, Kirchner braucht meine Pflege. Ich habe auch völlig genug von Berlin, da ich hier so allein sitze. .... ich bin froh, dass ich bald wieder fort kann von hier. Es ist doch gar zu einsam für mich.... ich wünschte, ich könnte auch hier alles auflösen, doch dazu muss man zuerst einen Platz haben, Davos denke ich mir auch nicht ideal, d.h. es könnte sein, wenn man noch einen kleinen Kreis gleichgesinnter Menschen dort hätte."

brief vom 10.1.21 von erna an nele van de velde

 

"Meine Frau wird sich sehr freuen, wenn sie zu ihr gehen. Sie ist gänzlich allein. sobald es geht, soll sie wieder hierher. Der Weg der Künstlerfrau ist ein schwerer, wenn sie einfach und reinen Herzens ist."

brief vom 22.1.21 von elk an schiefler

 

Erna schliesst alle Vorarbeiten für eine Ausstellung von Ölbildern im April in Frankfurt ab. gegen Mitte Februar kommt Erna von Berlin wiederum auf die Längmatte, gerade rechtzeitig, um Kirchner beizustehen, der von der Nachricht vom Tod seines Vaters überraschend stark getroffen wird. Am 14.2. ist der Vater an herzschlag gestorben.

 

1921

Die Tänzerin Nina Hard besucht Kirchner in Davos. Beginn der Arbeit an zwei monumentalen Holzreliefs für das von Henry van de Velde geplante Museum Kröller-Müller in Otterloo. Erst 1924 kommt das Vorhaben zum Erliegen.

Vom 11. bis 14. Mai fährt Kirchner nach Zürich, besucht ein Nachtlokal und ist begeistert von der Tänzerin Nina Hard. er lädt sie ein, zu ihm nach Davos zu kommen.

"Kirchner war drei Tage in Zürich, er kam heute zurück, strahlend, weil er eine Tänzerin gefunden hat, die ihm tausend Ideen für Bilder gab. Frau Kirchner war gerade hier, als er kam und war minder begeistert über den Fund. er will nächste Woche nochmals hinunter, weil ihr Engagement bald abläuft! Er hätte sie gerne als Gast, aber noch ist seine Suleika völlig abgeneigt."

brief vom 14..5.1921 von helene spengler an griesebach

 

1922 Kirchners Wohnung in Berlin wird endgültig aufgelöst. der Bilder- und Graphikbestand und das restliche Mobiliar werden nach Frauenkirch spediert, darunter auch ein Flügel, der vorläufig Aufstellung in der küche findet.

 

Erna stickt nach Entwürfen Kirchners Kissen.

Kirchner lernt Lise Guyer kennen; mit ihrer Hilfe kommt er zu den gewirkten Bildteppichen.

 

1923

Ausstellung in der Basler Kunsthalle und Umzug in ein Haus auf dem Wildboden.

 

1923 "Anfangs September kommt Ernas vater, der Korrektor Schilling für 14 Tage zu Besuch.

"Seit Tagen ist Ernas Vater hier. er ist sehr elend und bleich. geistig ganz so wie früher. langsam und ohne Interesse. ein guter Corrrector, gewiss, nicht mehr! bescheiden und selbstzufrieden. Das Leiden geht an ihm vorbei. Er fühlt weder Freude noch Schmerz. Erna ist ganz verzweifelt, dass er so ist, aber sie kennt halt diese Art Menschen nicht mehr. Durch seine grosse Bescheidenheit stört er wirklich nicht, wenn er so ruhig dasitzt und es sich schmecken lässt"

tagebuch 7.9.1923

 

Gerda Schilling stirbt an den Spätfolgen von Syphilis in der preussischen Landesirrenanstalt Neuruppin im Alter von noch nicht vierzig Jahren.

 

Gegen Ende Mai zieht die Tänzerin Nina Hard im Haus in Frauenkirch ein. Im Juni schickt Kirchner seine Frau für einige Wochen im Interesse des Ateliers nach Berlin. Nach Ernas Rückkehr aus Berlin kommt es in der nicht ganz unproblematischen Situation zu einem gelinden Einvernehmen. dafür sprechen Fotos, die Nina Hard und Erna zeigen, wie sie zusammen nackt im Tobel des Sutzibachs baden und dabei für den unermüdlichen Fotografen posieren.

 

Anfang Oktober kehrt die Tänzerin nach Deutschland zurück und verschwindet aus Kirchners Leben.

 

Erna stickt die Kreuzstichstickerei „figurenreiche Szenen aus dem leben“, ein Tischtuch. in den Figuren lassen sich Porträts von Erna und Ernst erkennen, Motive, die den textilen Arbeiten Ernas vorbehalten blieben. dargestellt sind Im weiteren Tänzerinnen und Tänzer aus Berlin. ebenfalls in diese Zeit fällt eine Kreuzstichstickerei von Erna „Sitzfläche für Liegestuhl“

 

Erna schläft im grossen, geschnitzten „Erna-Bett“ im an das Ofenzimmer anschliessenden leinen Raum.

 

"Unser neues Häuschen ist eine wahre Freude für uns. wir werden da gut hausen und in grosser neuer Ordnung. dies soll wirklich ein Wendepunkt meines Lebens werden. alles muss in übersichtliche Ordnung gebracht werden, und das Häuschen so einfach und schlicht wie nur möglich ausgestattet, aber schön und intim."

tagebuch 7.9.1923

 

1924

Beginn der Zusammenarbeit mit dem Kunstschriftsteller Will Grohmann.

 

1924 Arbeiten am Haus, viel Besuch, das Elektrisch wird gelegt, so dass bald kein Petrol mehr nötig ist

 

1925

Einige junge Basler Künstler, die Kirchner auf sich aufmerksam gemacht hat, schließen sich zur Gruppe „Rot-Blau“ zusammen und besuchen den Künstler in Davos.

 

"Ich habe Möbel für uns machen lassen. für Erna einen Arbeitstisch mit 5 Kästen und Hängetischplatte daran, für mich einen Schreibtisch und einen Grafikschrank. die Sachen sind gut ausgefallen und sehr schön. man kann nur Möbel wirklich gebrauchen, die man selbst zeichnet. ... Erna ist jetzt 2 Jahre sehr tüchtig und gut. Wir leben in Frieden und Ruhe beisammen und schaffen soviel es geht. der Garten trägt dank ihrer Sorgfalt gut Früchte. Mancher Mensch kommt spät zu Verstand. so ging es wohl mir und ihr. Ich bin nur besorgt, dass sie nach meinem Tod nicht zu sehr von den brüdern gedrückt und geschädigt wird. hoffentlich sind sie anständig zu ihr. sie hat soviel erduldet und ausgehalten, dass sie wirklich ein ruhiges Alter dafür beanspruchen kann."

 

"Ich schwanke oft, ob ich ihr nicht die Sicherheit der bürgerlichen Ehe geben soll. aber es kann natürlich auch übel ausschlagen, und die freie Bindung ist doch viel höher und schöner als die legale. Trennen kann uns auch so nur der Tod, den das gemeinsam Erlebte bindet ja stärker als alles andere, trotzdem wir nie eine Tat zusammen getan, die das Licht scheuen müsste."

 

1925/26

Reise nach Deutschland, u. a. nach Frankfurt/M., Dresden und Berlin.

 

1927

Erste Arbeiten an der geplanten Ausmalung des Festsaales im neuen Folkwang-Museum in Essen. Das Vorhaben wird 1934 eingestellt.

 

1928 Erna reist für die Monate Mai und Juni nach Deutschland. Sie hat nun seit Jahren in Davos gelebt und sehnt sich nach einer Unterbrechung.

"meiner Frau vollends tut das Leben hier nicht gut. Wir haben eine schwere Krise von nervöser Art überstanden und sie soll jetzt mal fort. Sie ist nur schwer zum Fortreisen zu bewegen. sie denkt, ich werde dann vernachlässigt. aber ich werde schon durchkommen auch ohne sie."

brief vom 3.4.1928 von elk an hagemann

 

Ich wollte, dass du bei dem Sanitätsrat, wo du mit Gerda warst, die Blutuntersuchung machen liessest. Gut ist es jedenfalls, auch wenn ich sicher glaube, dass nichts vorliegt. ... ich bin sehr einsam, man ist so aneinander gewöhnt, dass einem der andere fehlt, wenn er nicht da ist. Wir leben ja auch miteinander und kennen diese perversen Abneigungsgefühle der staatlichen Ehe nicht."

brief vom 9.6.1928 von elk an erna

 

Erna kommt Mitte Juni auf den Wildboden zurück.

Kirchners Mutter stirbt am 23. Dezember 1928.

 

1929 "Meine Frau ist sehr elend und mit den Nerven so schlimm daran, dass sie oft ohne Grund weint und keinen Mut hat zum Leben. So muss ich Llebenskraft für 2 aufbringen, trotzdem der Winter auch mir hart zusetzt. Hoffentlich ist es der letzte hier. so geht es oft, sind die finanziellen Nöte vorüber, kommen andere. und ich möchte doch so gern, dass mein treuer Lebenskamerad, der mit mir durch dick und dünn ging, auch ein wenig Sonne bekäme. Dazu starb meine Mutter vor Weihnachten. es ist natürlich gewiss, aber nie habe ich stärker gespürt, wie nahe man dem Ende ist, wo der Mensch starb, aus dem ich selbst entstand."

brief vom 7.1.1929 von elk an elfriede knoblauch

 

"Meine Mutter sagte einmal zu Erna, ich wäre überhaupt zur liebe unfähig worauf sie sagte dass ich den Menschen nur durch die kunst lieben könne durch das Medium der Kunst. ein verdammt tiefer Gedanke. sie ist oft für die Menschen mein Dolmetsch geworden, wie sie oft klarer ausdrückt, was ich meine.

 

... Erna liegt jetzt meist zu Bett. sie ist ein wenig besser, aber nicht viel. die Kälte ist augenblicklich zu furchtbar, so lasse ich sie liegen. Die Kleine, die wir jetzt haben, macht die Wirtschaft, so gut es geht. ich rede Erna sehr zu, dass sie bald zu ihnen fährt. ich glaube wohl, dass ihr das etwas hilft. aber sie sollen dadurch keinerlei Unkosten haben und ihren Teil an Lebensunterhalt von ihr nehmen, anders geht es nicht. wir haben ja keine finanzielle Not. ich verkaufte einiges wieder, so dass ich für Erna einiges ausgeben kann und ich tue es nur zu gern, denn sie braucht so wenig für sich."

brief vom 14.2.1929 von elk an frau und herr knoblauch

 

1930 Um sich nach dem langen Winter wieder einmal auf städtischen Boden bewegen zu können, reist Erna nach dem 10. April für einige Tage an den Zürichsee und besucht die nun in Küsnacht lebende Frau Professor Elsa Bosshart.

"Ob du nun gut bei deiner so lieben Freundin Frau Professor angekommen bist? Ach, ich hoffe es und hoffe, dass die Ängste nun von dir abfielen und du gemütlich und froh mit ihr am Tische sitzest in dem Doppelzimmer, wo der schwarze Frühling hängt und mit ihr plauderst."

brief vom 15.4.1930 von elk an erna

 

Erna, die immer wieder kränkelt, wobei auch die Psyche eine grosse Rolle spielt, (bei ihrem letzten besuch in Berlin dachte sie an eine Analyse, was aber von Kirchner vehement abgelehnt wurde) entscheidet sich für eine längere Kur. Kirchner mietet ein Auto mit Chauffeur und am 15. juni fahren die beiden in das Kurhaus Sennrüti nach Degersheim. Beim Einschreiben in die Kuranstalt scheint es Schwierigkeiten wegen des Namens gegeben zu haben und wieder einmal nimmt Kirchner zum Problem der Ehe Stellung:

"Du brauchst jedenfalls keine weitere Anmeldung als die, die du geschrieben hast, sonst sage nur, du hast die Papiere hier oben.... wir werden doch noch bei gelegenheit die amtliche Seite machen müssen, das wird das richtigste sein, es ist ja nur eine Form für uns und so können wir es ja tun. ich möchte wirklich nicht, dass du dadurch immer beunruhigt wirst. ich bin jetzt wirklich so frei, dass ich es tun kann, ohne Zwang und Unruhe."

brief vom 15.6.1930 von elk an erna

 

Am 18. Juli ist die zeit der Trennung vorbei, Kirchner mietet wiederum einen Wagen und holt Erna in Degersheim ab. Das Mädchen Hilde bleibt bis im Oktober und ist eine Hilfe für Ordnung und Instandsetzung des Haushaltes.

"vielleicht ist es dann auch leichter beim zweiten Mal, uns menschlich näher zu kommen, denn wir wehren uns, Erna noch mehr als ich, einen bei uns lebenden Menschen nur als Angestellten zu betrachten und ihn nicht aufzunehmen in die Gemeinschaft unseres Lebens. Wer hier mit uns lebt muss eben mithelfen, an dem Werk, das ich schaffe, indem er einfach und wirklich so ist, wie er ist ohne Maske und Unterdrückung seiner Eigenart. Erna ist dabei für alle neue Menschen die Mittlerin..."

brief vom 7.10.1930. von elk an elfriede knoblauch

 

1931 Erna ist um den 15. April herum wiederum für ein paar Tage bei ihrer Freundin Frau Professor Bosshart und Kirchner wünscht sich eine Bereicherung seiner Schallplatten: wenn es geht, frage doch noch nach Pathe-Platten, die mit dem Achatstift gespielt werden. wir brauchten ein paar richtige Schmettersachen. die Marseillaise und den alten Dessauermarsch, irgend so etwas mit viel Bum-bum-bum.“

kornfeld s.284

 

Ernähren Sommers gesundheitlich etwas lädiert; um den 5. September fährt sie zu einer weiteren Kur nach Degersheim. die gesundheitlichen Schäden sind gravierender und lassen sich durch eine Rohkostdiät nicht beheben. die Untersuchung in Davos Ende des jahres zeigt die Möglichkeit des Vorhandenseins eines Myoms. Sie reist am 11. November nach Berlin. die Operation wird im Franziskanerkrankenhaus am 31. Nov. durchgeführt, wobei man die Gelegenheit benutzt und auch gleich noch den entzündeten Blinddarm entfernt. (Arzt Alfred Döblin?)

"Bitte tue mir den Gefallen, diese Brücke-Leute und die Frauen derselben abzuweisen. Durch Annahme dieser Besuche schädigst du mich und meinen Namen."

briefe von elk täglich nach berlin

 

1932 Amm 1. Januar reist Kirchner über Zürich direkt nach Berlin, um seine Frau am 8. Januar auf den Wildboden zurückzuführen.

"Unsere Lieben, durch eure Güte sitzen wir hier bei Kranzler und denken an euch und wünschen euch alles Gute. Erna hat ein ganz neues Gesicht bekommen. Vielen dank dass ihr Hilde entbehrt, und herzliche grüsse euch beiden Lieben"

 

"Der Aufenthalt bei Schieflers hat ihren Zustand nicht verändert, hat nur erneut den Wunsch in ihr erregt, dauernd drüben zu sein... wenn ich wüsste, dass sie wirklich durch das lLeben in Deutschland wieder auf die beine käme, würde ich ihr in Berlin ein Zimmer mieten und sie dort leben lassen. Schliesslich hat sie es sich durch diese 20 jahre verdient, mit etwas Freude am Leben den Rest des Ihren zu verbringen und nicht jeden morgen mit dem Wunsche aufzustehen, zu sterben. es ist sehr traurig jetzt auf dem Wildboden, denn an mir zehrt dieser Zustand ja auch, sie ist ein guter Mensch und sie sollte nicht immer leiden müssen...."

brief von kirchner vom 24.9.1932 an carl hagemann

 

1933

Große Überblicks-Ausstellung in der Kunsthalle Bern.

1933 I m Sommer entdeckt Kirchner einen neuen Sport:

"wir treiben oder trieben bis zum Schnee einen schönen Sport. das Bogenschiessen. Sonntags sind oft eine Menge leute hier auf dem Wildboden, um nach der Scheibe zu schiessen. meine frau schiesst auch ganz gut. es ist ein erzieherischer Sport, der schöne Stellungen hervorbringt...."

brief vom 29.10.1933 von elk an hagemann

1935 I n Basel hängt Kirchner eine schöne Gruppierung von Aquarellen und Zeichnungen. auch Erna fährt zur Ausstellung nach Basel und trifft sich dort mit Hagemann.

 

1936

Kirchner schnitzt ein Relief für das Schulhaus in Frauenkirch/Davos. 1936 Im März kauft Kirchner für seine Frau das 1935 bei Girsberger in zürich erschienene Werk über die Arbeiten le Corbusiers und Pierre Jeannerets von 1929 bis 1934 mit der Widmung: "Erna für ihr grosses Interesse an moderner Architektur und Wohnen".

 

1937

In Deutschland wird Kirchner als „entartet“ diffamiert und seine Werke in den Museen beschlagnahmt. Auf der zuerst in München gezeigten Schau „Entartete Kunst“ ist Kirchner breit vertreten, u. a. mit Skulpturen. Erste Präsentationen seiner Werke in den Vereinigten Staaten (Detroit und New York).

1937 E rna reist im Oktober nach Basel zur grossen Kirchner-Ausstellung. In den letzten Wochen wieder manifest gewordenes Heimweh“, das Kirchner seit JahrenSsorge bereitet, beginnt sich unter dem Druck der Nachrichten aus Deutschland zu beruhigen.

 

1938

Aus Verzweiflung über die politische Lage in Deutschland nimmt sich Kirchner am 15. Juni das Leben.

 

1938 K irchner versucht im Januar, in Form eines Märchens seine Lebenssituation zu schildern.

"In einer grossen Stadt, östlich des Rheins lebte einst ein kleiner Maler hoch oben im Dach eines grossen Hauses...."

kornfeld s.320

 

Kirchner zerschlägt seinen Adam und Eva-Stuhl und zerstört seine sämtlichen Druckstöcke und verbrennt alles. Vermutlich gehen in dieser zeit auch viele Zeichnungen und persönliche Dokumente verloren.

Eine langwierige Kopfgrippe, die Schmerzen einer sich zusehends verschlimmernden Darmkrankheit, Ernas Unfall und die Verzweiflung über die politische Lage in Deutschland, treiben Kirchner in eine immer grösser werdende Einsamkeit.

 

Am 23. April unterzeichnet er eine Vollmachtserklärung, nach der "Erna Schilling, genannt Frau Kirchner, von meinen Verwandten anerkannt als meine Frau und Pflegerin.... alle meine Geschäfte erledigt und die gesamten Rechte im Falle der Abwesenheit oder Krankheit vertritt."

 

Am 6. Mai 1938 trifft zu seinem 58. Geburtstag nicht eine einzige Gratulation von Freunden ein. Erna hilft ihm über diese Enttäuschung hinweg.

Kirchner entschliesst sich, Erna die Ehe nun doch zuzugestehen. Am 10. Mai begeben sich Kirchners zum Zivilstandsamt im Rathaus von Davos. Er legt ein Papier vor mit dem Titel "Hergang meiner Verbindung von 1912 an: ... Erna gilt sowohl bei meinen Verwandten wie Freunden und Bekannten als meine Frau und ist meine treue Pflegerin und Mitarbeiterin seit 20 Jahren."

Er erklärt seinenWwillen, die Ehe einzugehen. die Beschaffung der nötigen Papiere nimmt längere Zeit in Anspruch; das Gewünschte trifft am 1. Juni ein, Am 9. Juni unterzeichnen Ernst Ludwig und Erna das "Verkündgesuch".

 

Am 12., 13. Juni verlangt Kirchner die Einstellung der Bemühungen. Die Eheschliessung wird nicht mehr vollzogen.

 

 

"Lieber Baumann, achten Sie auf sich. Ich hatte Sie sehr gern. Vielleicht Sie auch mich ein wenig? Dann kam bei mir der Fall. Der Armbruch meiner Frau, meiner geliebten Frau, und stufenweises Abgleiten ins Rohe und Gemeine, es war fast schon zu lange die Frist, die mir gegeben. ... Sie hatten ja recht, mir fehlt die Würde, der Takt, so muss ich gehen aus dieser schönen Welt, von diesem reinen, edlen Weibe, das nie etwas wollte für sich, nur für mich besorgt war. Das könnte ich nicht ertragen, deshalb muss ich selbst gehen. Sie liebte die Kunst, sie liebte mich. Wie habe ich es ihr gedankt? Erna Schilling heisst sie, ist ein edler, gesunder Mensch wie ich oder Sie. Tun Sie etwas für sie, Sie werden diese Art von Menschenhandel kennen. Sie ist sehr kurzsichtig, die Arme, und feinfühlig. Ich konnte sie nicht schützen, ich war ein Narr, ein übler Geselle...."

brief an baumann vom 14. 6.1938, von erna beim „aufräumen“ gefunden

In der Nacht vom 14. auf den 15. juni treibt Kirchners Krise einem Höhepunkt zu. Nach einer schlaflosen Nacht versucht er Erna zu einem Doppelselbstmord zu überreden, aber Erna will ihm über die schwere Depression hinweghelfen und sucht einen Arzt zu erreichen.

Noch während des Telefonanrufes nimmt sich Kirchner vor dem Haus des Bauern Rüesch das Leben.

Er wird am 18. juni, nach einer Trauerfeier im Krematorium Davos auf dem Waldfriedhof zur letzten Ruhe getragen. Aus Berlin kommt Ernas Bruder und bleibt noch einige Tage.

Die Hausangestellte von Helene Spengler bietet Erna ihre Hilfe an.

„liebe gnädige Frau...“

 

Seit Monaten spielte sich hier auf dem Wildboden in aller Stille eine Tragödie ab. Kirchner litt seelisch unsagbar unter der Diffamierung in Deutschland. Dazu kam, dass er auch hier in der Schweiz sich im luftleeren Raum fühlte. Ich kann Ihnen jetzt keine Einzelheiten schildern.

Leider stehen seine Brüder der Kunst völlig fremd und teilnahmslos gegenüber. Man macht am 16. d.M. eine Gedächtnisausstellung. alles ruht auf mir. Er hat ein grauenhaftes Chaos hinterlassen. Ich bin am Zusammenbrechen.

ich muss für die nächsten Wochen noch hier bleiben. fremde Menschen gehen in seinen Bildern herum. mir tut alles weh. Seine Verfügung, die er hinterlassen, ist so allgemein gehalten, dass ich noch abwarten muss. Gott sei dank, ist mein Bruder hier, dass ich nicht allein im Haus bin.

Wir sind in den letzten Jahren in eine furchtbare Vereinsamung geraten, die natürlich durch sein körperliches Befinden bedingt war. Vor mir liegt ein grosses Dunkel. vielleicht darf ich im lauf des Winters einmal zu ihnen nach Mellingstadt kommen.

Ich grüsse sie und die Ihren herzlich.

in grossem Leid

Ihre Erna Kirchner

brief vom 9.7.1938 von erna an luise schiefler

 

 

Die Biografie zu Erna Schilling nach dem Tode Kirchners

1940 räumt Erna Kirchners Atelierzimmer aus und richtet darin ein zimmer für Gäste ein, aber es kommt kaum jemand für längere Zeit.

Ernas Bruder Kurt stirbt in Berlin an einer tuberkulösen Erkrankung; damit hat sie ihren letzten Blutsverwandten verloren.

kornfeld s.328

1941 "Nun sitze ich bereits drei Jahren allein auf dem Wildboden, und keine Aussicht, das je ändern zu können...."

brief vom 29.6.1941 von erna an hentzens

1942 "Ein Glück für mich, dass es immer wieder einige Leute gibt, die sich für meine Bilder interessieren. so hat mein Leben doch noch einen Sinn. Merkwürdigerweise sind es immer junge Leute, denen gerade die Bilder zwischen Dreissig und Fünfunddreissig, die sogenannte Abstrakte Periode von Kirchner, den grössten Eindruck machen."

brief vom 1.4.1942 von erna an hentzens

1943 Lise Guyer übernimmt einen grossen Teil des Mobiliars aus dem Wildbodenhaus. Erna benützt die Gelegenheit, um sich neu einzurichten. Erna trennt sich von mehreren Skizzenbüchern, vom Tagebuch, von kleinen Zeichnungen und von einer Reihe persönlicher Dokumente und Briefe.

Die Grenzen zu Deutschland sind geschlossen. Erna lebt allein auf dem Wildboden. viele helfen ihr mit gelegentlichen Käufen über die schlimmsten Kriegsjahre hinweg. Sie harrt auf dem Wildboden aus, betreut von mehreren Freunden und Bekannten, vor allem von Lise Guyer und Walter Kern.

 1945 Erna erlebt das Kriegsende, Im Sommer erkrankt sie ernstlich. als sich ihr Zustand verschlechtert, wird sie am 15. septemberin das Davoser Krankenhaus eingeliefert, wo ihr Leben am 4. Oktober zu Ende geht.

Der Totenschein ist auf "Frau Erna Kirchner" ausgestellt, als Zivilstand steht "verwitwet".

Erna wird neben Ernst Ludwig Kirchner auf dem Waldfriedhof zur letzten Ruhe gebettet.


Die hinterlassenen Arbeiten aus seiner Jugend zeigen einen fauvistischen Stil.

Kirchner studierte Architektur in Dresden von 1901 bis 1905 und schloss mit Diplom ab.

Als Werkstättenschule stand die von Kirchner besuchte „Debschitz-Schule“ (eine Art Vorschule) in München an der Spitze der zeitgenössischen Bestrebungen der Kunstschulreform mit dem Ziel, bildende und angewandte Kunst zusammen zu führen. Nach diesem Studienaufenthalt wandte sich Kirchner gegen den Beruf des Architekten.

Am 7. Juni 1905 schloss er sich in Dresden mit Erich Heckel, Fritz Bleyl und Karl Schmidt-Rottluff – Autodidakten wie er – zur „Künstlergemeinschaft Brücke“ zusammen.

In dieser Zeit entwickelte er sich von einem impressionistisch beeinflussten Maler zum Expressionisten.

Er lebte bis 1911 in Dresden und zog dann nach Berlin. Entscheidend war dafür in Dresden der mangelnde Erfolg seiner Kunst. In Berlin besserte sich seine Lage zunächst nur wenig. Dort lernte er seine neue Lebensgefährtin Erna Schilling kennen.

In seinen Bildern war jedoch eine Veränderung bemerkbar. So wurden seine runden Formen nun zackiger, die Striche erschienen nervöser (Kontrast von Landschaft und Großstadt), seine Farben ließen in der Leuchtkraft nach. Straßenszenen tauchten in seinem Werk auf.

Es sind in der heutigen Kirchner-Rezeption die gefragtesten Bilder des Künstlers.

Kirchner lässt sich 1915 einziehen, wird als Soldat untauglich, kann dank einiger Freunde ins Sanatorium und gerät mit Morphium in Kontakt. 1917 kann Kirchner in die Schweiz nach Davos ziehen und wird 1921 wieder frei von Morphium.

Er reist 1925 wieder nach Deutschland ein, kann aber eine erhoffte Professur nicht erlangen. Er legt die schroffe harte Weise ab und sein Malstil wird wieder flächiger und nach 1928 runder und weicher. Er lernt durch die Abwesenheit Ernas die Sehnsucht kennen. Diese leidet zunehmend unter Depressionen und sowohl Kirchner als auch Erna können nicht mit diesen Schüben umgehen; Erna scheint zu kränkeln. Er wehrt sich gegen eine Heirat mit Erna, die die Schweiz deshalb immer nur mit einen Dreimonatsvisum besuchen kann.

Kirchner leidet seit 1928 wieder unter seiner Morphium-Sucht und er entwickelt eine weichere und rundere Formensprache.

Er muss wahrnehmen, dass seit 1933 durch den Nationalsozialismus und seine Wirkung der Verkauf seiner Bilder und das Interesse an ihnen geringer wird.

Ab 1933 verfolgten die Nationalsozialisten mit ihrer Kunst- und Kulturpolitik das Ziel, sämtliche Bereiche künstlerischer Produktion ihrer Kontrolle zu unterwerfen, um sie von dem „zersetzenden Einfluß auf unser Volksleben“ zu „reinigen“ und der Volksertüchtigung zuzuführen.

Zur umfassende Säuberung und Gleichschaltung der deutschen Kunst wurden Künstler aller Kunstzweige in vom NS-Staat kontrollierte Kammern hinein gezwungen, von deren Mitgliedschaft ihre weitere Tätigkeit abhängig war.

Wer aus politischen, rassischen und kunstpolitischen Gründen nicht in eine Kammer aufgenommen wurde, erhielt Malverbot, Aufführungsverbot, Ausstellungsverbot oder Publikationsverbot und verlor seine berufliche Position. Erst kurz vor Lebensende willigte er der Eheschließung mit Erna Kirchner ein und sicherte sie somit ihren Aufenthalt

Kirchner wird 1937 wie viele andere auch aus der „Preußischen Akademie der Künste“ ausgeschlossen. Als ihm nicht mal mehr zum Geburtstag gratuliert wird, begeht er 1938 Selbstmord.


und unbedingt lesenswert:

1937 erfolgte die Organisation der Ausstellung „Entartete Kunst“.

1938 erfolgte im Zuge der „kulturellen Säuberung“ des Dritten Reichs die Auflösung der Münchner Secession.

Als „Entartete Kunst“ galten im NS-Regime alle Kunstwerke und kulturellen Strömungen, die mit dem Kunstverständnis und dem Schönheitsideal der Nazis nicht in Einklang zu bringen waren:

Expressionismus
Dadaismus
Neue Sachlichkeit
Surrealismus
Kubismus und Fauvismus.

Als „entartet“ galten unter anderem die Werke von:

Ernst Barlach,
Willi Baumeister,
Max Beckmann,
Karl Caspar,
Maria Caspar-Filser,
Otto Dix
Max Ernst,
Otto Freundlich
Wilhelm Geyer
Otto Griebel
George Grosz
Karl Hofer
Karl Hubbuch
Ernst Ludwig Kirchner
Paul Klee
Oskar Kokoschka
Käthe Kollwitz
Elfriede Lohse-Wächtler
Gerhard Marcks
Paula Modersohn-Becker
Rudolf Möller
Otto Pankok
Max Pechstein
und Karl Schmidt-Rottluff

 


 

Eindeutiger aber brach der Expressionismus und seine vorangehende Entwicklung mit der bisherigen Kunst und Salonmalerei: auf Kosten von Fernsicht, Perspektive und realistischer Wiedergabe des Motivs soll das subjektive Erleben dargestellt werden, unter anderem erkennbar in Werken von van Goghs, Paul Gaughin, Paus Cezanne, Edvard Munch, und bei den Künstlergruppen der Fauvisten, der „Brücke“ und dem „Blauen Reiter“. Diese Einflüsse sind nachvollziehbar und waren sehr starke prägende Wegbegleiter für den jungen Kirchner. Den Einfluss des kühl abstrahierenden Gaughins zu Gunsten eines naiven Südsee-Idylls verliert Kirchner recht bald, nachdem er in Berlin seine Jugend bis zum Militärschock voll ausleben kann.

 

Kirchners fast unwirklicher und bizarrer Ausdruck kann schon durch seine Farben mit gebrochenem Gelb, Türkisgrün, Rotviolett, Rosè wie als kaltes Morgenlicht, Schwarz und Dunkelgrün nachgefühlt werden und die Deformierung seiner Architekturen sind nachvollziehbar; und wenn man seinen Umgang mit der Perspektive mit schroffer Nähe und schneller Ferne mit einbezieht, entstehen seine schrillen Aussagen. Es wäre zu betrachten, inwieweit Kirchner erst der bewegten Figur gerecht werden und sie durch den Tanz bildnerisch als Figur erkennen konnte, denn ein statisch ruhendes Modell ist an die Umgebung angepasst und fällt erst durch die Bewegung augenfällig heraus. Besonders die Gemälde der Berliner Zeit werden Stil bestimmend über seine gesamte Schaffenszeit. Kirchner vermeidet gerne Formüberschneidungen. Wesentliche Impulse gewinnt Kirchner wieder in der Schweiz durch die Tänzerin Nina Hard. Wenn Kirchner früh genug mit der 12-Ton-Musik Arnold Schönbergs und Alban Bergs bekannt geworden wäre, hätte er längst mit der Inversion gearbeitet und die Farben nicht mehr nur in der annähernden Lokalfarbe verwendet.

 

 

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Bild: Kirchner_Farben_1.jpg
:

ich habe mir die Mühe gemacht, die wesentlichen Bilder seiner Zeit bis 1914 als Farbanalyse zu betrachten. Zeitdoppelangaben waren bei Kirchner üblich; er übermalte etliche Bilder später wieder, obwohl sie schon im fremden Besitz waren; dieses Recht räumte er sich beim Verkauf ein.


Bild: Kirchner_Komp_5.jpg
:

Bild: Kirchner_Komp_6.jpg
: am unteren Bild fiel mir die Einzelgestaltung der Figuren auf, sie überschneiden sich nicht

Bild: Kirchner_Komp_7.jpg
: Architektur gelingt Kirchner räumlich verzerrt

Bild: Kirchner_Komp_8.jpg
: eine der großen Straßenszenen, der hervor springende Vordergrund lässt die Dreh-Bewegung der recht steifen Figuren auffallen;

 


Bild: Kirch1.jpg
:
noch einmal zur besseren Veranschaulichung mit völlig unpersönlichen Figurumrissen...

 

Ich habe diese vier Blätter für seine Zeit vor dem Ersten Weltkrieg schnell als Strichmännchenzeichnung gemacht, um mir zu zeigen, dass Kirchner sehr wohl mit Perspektive als einem raumbildenden Gefüge umgehen konnte, auf das er dann seine sehr bewegten Figuren mit fast nur flächiger starker Lokalfarbe aufmalte. Die Modellierung seiner Figuren ist gering; die Gestik und Bewegung zählen. Dieses Schema behält Kirchner über all seine Jahre hinweg bei. Erst im fortgeschrittenen Alter verliert Kirchner seine recht grobe und schnelle Modellierung und kehrt zur ruhenden Fläche des Tafelbildes zurück.


Erst zögerlich beginnt man nach 1945 durch die kulturelle Leere und verordnete braungraue Erdenschwere der Staatskunst der Nationalsozialisten zu begreifen, welche Brüche und was für eine Leere ausgelöst worden waren.

Es wäre zu bearbeiten, welchen bleibenden und nachhaltigen Einfluss nicht nur Kirchner ausübte, sondern auch diejenigen Künstler, die zu den „Entarteten“ gezählt wurden, um eine Art un-unterbrochenen Zeitgleichfluss zu schildern. Als Spiegel seiner Zeit drückte Kirchner gewiss eigenwillig und formkräftig seine Berliner Befindlichkeit in den Bildern aus.

Diese Formensprache kann mit ihren erheblichen Nachbearbeitungsmitteln auch der Fotografie nachfühlen, aber nicht so bizarr und persönlich gebunden wie Kirchner und die Aufgabe der topografischen Schilderung ist (nicht nur penibel wie seit Canaletto mit der camera obscura) auch aufzählend mit Beschreibung und Attribute tragende Namen erfüllt.

Der Jugendstil brachte eine feinfühlige Formensprache hervor, die zusammenhängend, stimmig und in sich schlüssig wirkte. Wo es möglich ist, werden in der Gegenwart diese städtebaulichen Kleinodien behutsam und denkmalpflegerisch bewahrend behandelt.

Die „Neue Sachlichkeit“ mit ihrer kalten bis hin zur mystisch überhöhten Wirklichkeitsschilderung ging schon davon ab. Kirchners schrille Formensprache hätte in ihr als untypisch, wenig bereichernd und dekorierend nichts mehr zu suchen gehabt und er entwickelte sich abgewandt in der Schweiz auch anders, aber bis hin zur flächigen und lyrischen, fast naiven Topografie.

Die Moderne löst sich vom schmückend unterstützenden Ornament. Dies wurde durch Adolf Loos geprägt. „Ornament und Verbrechen“ (1908!) lautet die Überschrift des Aufsatzes, in dem Adolf Loos sich gegen das Zierornament einsetzt. „Ornament ist vergeudete Arbeitskraft und dadurch vergeudete Gesundheit … Heute bedeutet es auch vergeudetes Material, und beides bedeutet vergeudetes Kapital … Der moderne Mensch, der Mensch mit den modernen Nerven, braucht das Ornament nicht, er verabscheut es.“ (Adolf Loos, Ornament und Verbrechen, 1908). So sprach der kalte Rationalist.

 

Ursprünglich als Gegenbewegung zur Stilunsicherheit von Herrschafts- und Repräsentationsbauten des 19. Jahrhunderts mit seiner ornamentalen Überladung gedacht, wurde die Moderne über das Bauhaus Weimar und später in Dessau zu einer eigenen Stilrichtung propagiert. In den USA fand die Moderne ab den 30er und 40er Jahren des 20. Jahrhunderts Verbreitung und eroberte von dort aus nahezu die ganze Welt. Dies war sicher nicht mehr Kirchners Welt. Es wundert nicht, dass er als Bezug aus einem modischen Gesamtkunstwerksbegriff des klassizistischen bürgerlichen Salons kam und dies für sich als Gegenpol auffasste. Sein Mangel bestand aber in der fehlenden Anpasssung und Mitgestaltung an sich rasant ändernde Stilweisen. Kirchner blieb zeitlebens schrill, wie Munch über lange Strecken hinweg erdig-weich beklagend blieb.


Nachträge zur Perspektive

Ich bin auf Kirchner wieder aufmerksam geworden, weil seine Ansichten nicht „ruhig“ sind.

Die Schüler/Innen werden oft überfüttert mit gleichzeitigen thematischen Informationen zu einem Bildproblem, fnden aber auch bei gedanklich klar strukturiertem Aufbau nur schwer zu einer durch eigener Lust betonten ordnenden Bildlösung. Die Temperamente der Auffassung sind einfach zu verschieden und die gleichzeitigen Bedeutungsmitschreibungen sind oft verschieden. Ich bin der Ansicht, dass erst ein statischer Beobachter einen ruhigen Gegenstand innerhalb der Ansicht des Tafelbildes formgerecht bestimmen kann.

Der Gebrauch des Fotoapparates leistet hier keine Hilfe; ein technisches Bild ist nur ein erzeugtes Bild und setzt kein subjektives Abbild. Die Psyche gestaltet keine kalte rationale Perspektive, sondern kombiniert eigentätig und ist wirklich nur ein Hilfsmittel. Ich bin auch zur Ansicht gekommen, dass ein Fotoapparat wegen seiner starren Bildachse nur mangelhaft geeignet ist, die Gewichtung eines künstlerischen Tafelbildes zu erreichen.


Ein sitzender Zeichner befindet sich mit der ruhig aufgelegten Zeichenhand gegenüber dem Modell auf Augenhöhe; ein stehender Maler hingegen hat eher eine Überkopfansicht und eine unruhigere Malhand; es sei denn, er benutzte den abstützenden Malstock für eine ruhige Hand. Munch schien großformatig und freihand zu malen und auch Kirchner machte das, -Kirchner mit weitem Objektabstand und schrill hervortretender Objektnähe und Munch aus weiterer Ansicht heraus.

Mir fehlte deshalb die Vogelperspektive, ich füge sie hier als Tischvorlage bei. In ihr können gleichsam auf Schienen Ansichten hervor gezogen und nach hinten geschoben werden.


Bild: persp48.jpg
: Ansicht von oben, aber mit mittigem Fluchtpunkt

Bild: persp49.jpg
: ebenso, aber Fluchtpunkt etwas seitlich versetzt

Bild: persp50.jpg
: Fluchtpunkt stark seitlich versetzt

Bild: persp51.jpg
: dto, aber ausgearbeitet

Bild: persp52.jpg
: mit Skizze einer Liege; Munch hat das verwendet und Kirchner ebenso

Bild: persp59.jpg
: die einzelne abgeleitete Liege

Bild: persp53.jpg
: Entwicklung eines Stuhles im Raum

Bild: persp55.jpg
: Ausklinkung des gleichen Themas, aber abgeleitet auf ein Blatt

Bild: persp56.jpg
: als große Tischvorlage

Bild: persp57.jpg
: Weiterentwicklung zur Bank, wie sie z.B. Liebermann oder auch Munch benutzten, bei starker Betonung der Zentralperspektive

Bild: persp58.jpg
: Tischvorlage mit fehlenden Sitzbrettern... als Arbeit mit einem anderen methodischen Bild-Aufbau....

 

Man kann nun hier einmal versuchen, die Figuren einzuzeichnen. Dürer hat sich in seinen akademischen „Unterweisungen“ an der verkürzten Ansicht versucht. Michelangelo im „David“ sogar damit etwas gespielt, Rembrandt in seiner Anatomie des Dr.Tulp und Munch und Kirchner in den Ansichten mit ihren Ateliermöbeln und erst recht Egon Schiele mit seinen Wallys.

Als weitere Entwicklung zerläuft es dann in einem bildnerischen Ästhetizismus, weil die Künstler merken, dass sich ein gebrauchtes Motiv in seiner typischen Lebenszeit und -phase erschöpfen kann. Bestimmte Ansichten werden vom Publikum erlernt und die wiedergegebenen Ansichten beginnen die Grenze der technischen Realisierbarkeit zu berühren, bis ein Gegenstand nur noch ein Briefbeschwerer wird, dem gnädig eine künstlerische Aussage zuteil wird.

Man sollte sich einmal die Mühe machen, mit Bildergoogle den Suchbegriff „Bildende Kunst Liegende“ durchzuarbeiten, um nachzuvollziehen, wie sich ein Begriff durch eine stetige Anpassung an das Wesen einer gefälligen Geschmeidigkeit auflösen kann.


Noch eine andere Frage beschäftigte mich, denn Kirchner schien abwechselnde Perspektiven, bzw. wechselnde oder etwas versetzte Standpunkte zu benutzen. Ich habe die Betrachtung einmal wesentlich verändert.

Es ist allgemein üblich, einen stehenden oder gehenden Menschen in einer natürlichen Ansicht abzubilden. Auch Teilansichten und Ausschnitte dieser Perspektive werden immer wieder als verständlich fürs ganze angesehen. Erst bei völlig unüblichen Blickwinkeln z.B. schräg von oben oder von oben stockt der Blick und der Betrachter muss sich die Lage im Raum erst vorstellen und insgesamt entstehen dramatisch verzerrende Aussagen, wie z.B. beim Handball- oder Fußballsport.


Bild: Perspektive_Zirkus_17_2007.jpg
: die artistischen Bewegungen im Zirkus geschehen oft so schnell, dass eine Analsye bald nicht mehr gelingt.....


Ich habe einmal und nur nach neuen Bildwirkungen und Sichtachsen suchend Kräne von unten fotografiert und dann nachgezeichnet, als Beispiel, um Kirchners ständige Suche nach Neuem nachvollziehbar zu machen.


Bild: Perspektive_128.jpg
: die Reklameleuchttafel steil von unten und verzerrend abgebildet, die sonst nur als Logo eben abgelesen und dann dabei klar erkannt wird

Bild: Perspektive_134.jpg
: dieser Kran von unten erlaubt noch weitere verfremdende Bildausschnitte mit neuen Einzelaussagen

Bild: Perspektive_135.jpg
: der Betrachter sucht wegen des Treppengeländers sofort nach menschlichen Formen

Bild: Perspektive_136.jpg
: eine einzelne Stütze eines abgebauten und zerlegten Portalkranes bekommt einen neuen Eigenwert

Bild: Perspektive_137.jpg
: nicht mehr klar zu erkennen

Bild: Perspektive_138.jpg

Bild: Perspektive_139.jpg

Bild: Perspektive_140.jpg

Bild: Perspektive_141.jpg

Bild: Perspektive_142.jpg

Bild: Perspektive_143.jpg

Bild: Perspektive_144.jpg
: diese Bilder betrachte ich einmal als eigene Aussage. Ich habe es hier angefügt und dann die Bildmotivsammlung abgebrochen, um keine formale Gewöhnung in der Bildaussage zu bekommen.

 

 


Bild: Perspektive_A_335.jpg
: mit weißem Farbstift auf schwarzes und rauhes Strukturleinen gezeichnet und als kalten Zustand einmal festgehalten...

Bild: Perspektive_A_336.Jpg
:

Bild: Perspektive_A_337.jpg
:

Bild: Perspektive_A_338.jpg
: mit Violett, Blau, Türkis versehen, das Bild bekommt dann eine andere gefühlsmäßige Aussage

Bild: Perspektive_A_339.jpg
:

Bild: Perspektive_A_340.jpg
:

Ähnlich wirkende Ansichten wie eine Überkopf-Eisenkonstruktion mögen die Beton-Straßenarchitekturen auslösen. Deren vermitteltes Gefühl von ebener Basis spielt sich verwirrrend oberhalb des Betrachters ab.

 

Kirchner benutzte klare Sichtachsen bei seinen Zimmeransichten, recht eigenwillige Formen in seinen Schilderungen von Architekturen und Stadtansichten, und zuletzt mag auch eine Rolle gespielt haben, dass der Wirtschaftsweg zu seiner Schweizer Berghütte ganz anders aufsteigend war, als die ebenflächige Ansicht von der Alpe aus. In Kirchners Bildern vom Almauf- und -abtrieb kommt das zum Ausdruck.


 

Es kann sein, dass es Kirchner in der Zeit vor und nach dem ersten Weltkrieg ähnlich gegangen ist wie einem ruhenden und innehaltenden Artisten, dessen Bewegung plötzlich eingefroren wird und der das Nachbild seiner Bewegung fühlt.

Kirchner hat im Laufe seines Lebens viele Stiltendenzen angebahnt, nachgearbeitet, durchgearbeitet und ausgeformt, blieb sich im Wesen aber stets treu.

 

Reinhard von Tümpling, im April 2011